September 2009: Mit einer Fotoreise von Naturblick soll es in die Masuren, im Nordosten Polen gehen. Beim Blick auf die Landkarte fiel mir auf, dass die Kurische Nehrung von dort im Grunde genommen nur einen Katzensprung entfernt ist. Oft habe ich mich auf Wanderungen mit einem guten Freund über diese baltische Halbinsel bzw. Nehrung östlich von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg unterhalten. Ich nutzte seiner Zeit die Gelegenheit und brach fünf Tage vor dem Masuren-Treffpunkt an die Kurische Nehrung auf.
Auch wenn meine damalige Vermieterin des Zimmers in Nida recht erstaunt war, dass dieser „öde Landstrich“ wie sie die Nehrung bezeichnete etwas Besonderes sein sollte – mich hat diese Landschaft nachhaltig beeindruckt! Gerne zitiere ich an der Stelle Wilhelm von Humboldts, der im Jahr 1809 an seine Frau schrieb: „Die Kurische Nehrung sei so merkwürdig, dass man sie wie Spanien und Italien gesehen haben müsse, solle einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen.“
Zurück in die Gegenwart, September 2022. Mitte des Monats treffe ich mich mit einem Großteil der Teilnehmenden der Thürmer-Fotoreise in Kiel am Ostuferhafen. Von hier brechen wir gemeinsam mit der Fähre nach Osten, mit dem Zielhafen Klaipeda auf.
Kiel – Klaipeda – Nida
Kaum eingeschifft auf der DFDS Victoria Seaways, bestaunen wir den förmlich explodierenden Abendhimmel, der uns nach den heftigen Regenfällen des späten Nachmittags im Kieler Hafen verabschiedet. Am nächsten Morgen treffen wir uns auf dem Achterdeck und erfreuen uns an den ersten Wolken, die sich östlich von Bornholm über der Ostsee zu wahren Türmen aufbauen. Während der Mittagsstunden experimentieren wir mit der Spiegelung und den reichhaltigen Wolkengebilden. Um Spannung in das grelle Licht zu bringen, arbeiten wir mit kamerainternen Filtern (Bildstil, Picture-Control sowie den Filmsimulationen bei Fuji) und nutzen die Einstellungen Monochrom bzw. Schwarzweis-Film.
In Klaipeda angekommen, bringt uns unser Shuttle-Service direkt ins Hotel, wo sich unsere Reisegruppe teilnehmermäßig vervollständigt. Während des Frühstücks organisiere ich unseren Leihwagen, so dass wir zügig aufbrechen können. Nach dem Verstauen unseres Reisegepäcks, geht es mit einem kleinen Zwischenstopp im Supermarkt für persönliche Belange direkt zur nächsten Fähre. Nach einer Kurzen Wartezeit, werden wir eingewiesen auf der Autofähre, die die Hafenstadt Klaipeda mit dem litauischen Teil der Kurischen Nehrung verbindet. Auch wenn die Überfahrt nur wenige Minuten in Anspruch nimmt, so haben wir das Gefühl in eine „andere“ Welt einzutauchen.
Unseren ersten Stopp legen wir nach einigen hundert Metern am Ostseestrand ein. Hier entdecke ich, wie sich auch die Nehrung verändert: Der Übergang vom Parkplatz zur Düne führt über eine neue Holztreppe, die uns im Vergleich zur alten zwischenzeitlich versandeten Treppe deutlich flacher auf den Dünenkamm führt. Oben angekommen, erwarten uns beeindruckende Wolkenberge, die von der Ostsee über die Nehrung gefolgt vom Haff zum Festland weiterziehen.
Langsam arbeiten wir uns mit verschiedenen Stopps in Richtung Nida vor. Das ehemalige Fischerdorf, das sich zum Ende des 19. Jahrhunderts als Künstlerkolonie (Nida / Nidden bei euro art) etablierte, soll unsere Ausgangsbasis für die kommenden Tag auf der Nehrung bilden. Ausschlaggebend für die Entstehung der damaligen Künstlerkolonie war neben der Abgeschiedenheit und der Lage zwischen Ostsee und Haff, das Licht – welches Maler, Schriftsteller und weitere Künstler in seinen Bann zog.
Dünen, Haff und Ostseebrandung
Noch bevor wir unsere Unterkunft ansteuern, legen wir einen Stopp an der Panidis-Düne, der hohen Düne am Ortsrand von Nida ein. Vom Parkplatz sind die Aussichtsplattformen in wenigen Minuten erreicht. Von dort oben reicht unser Blick über das am Haff-Ufer gelegenen Nida, dem Haff selbst hinüber auf die langegezogenen Dünenkämme bis weit hinter die russische Grenze. Dort erstreckt sich die Nehrung bis zum samländischen Sockel bei Selenogradsk, dem ehemaligen Badeort Cranz (ca. 46 km).
Zur Abenddämmerung hin brechen wir an den Ostsee-Strand bei Nida auf. Was mir bei unserem Aufbruch allerdings fehlt, ist das typische Rauschen der Ostseebrandung, dass oftmals schon im Ort zu hören ist. Vom Parkplatz sind wir nach wenigen Schritten am Strand. Auch wenn sich nach wie vor beeindruckende Wolken entlang der Küstenlinie auftürmen, die Brandung schient gerade anderen Orts tätig zu sein. Wie Blei liegt die Ostsee vor uns – spült die eine oder andere müde Welle an das sandige Ufer.
In den folgenden Tagen erkunden wir mit dem Sonnenaufgang die große Düne bei Nida sowie das Dünenfeld (Negyvosios kopos) zwischen Pervalka und Juodkrante. Was uns, mal mit leichtem Wolkenhimmel ein andermal mit Regentropfen vor der Linse gelingt. Zu den Sonnenuntergängen brechen wir wie schon am ersten Abend an den Strand von Nida ebenso wie von Pervalka auf.
Die Lichtintensiven Stunden zwischen Morgen- und Abenddämmerung verbringen wir gemischt mit Natur und Kultur. Mal im Wald ebenso wie in den historischen Ortskernen von Nida und Juodkrante samt Schiffsfriedhof. Auch der italienische Blick aus dem Thomas-Mann-Haus hat eine große Anziehungskraft auf uns. Des Weiteren umwandern wir die große Düne und genossen die Nachmittagssonne mit angeregten Unterhaltungen in den zahlreichen Cafés. Ganz nebenbei – die anfänglichen S/W-Experimente sollten uns über die ganze Reise begleiten.
Über die Tage wurde schließlich auch die ersehnte Brandung zur Abenddämmerung von der Witterung geliefert. Am letzten Abend, wurde noch einmal unsere Geduld auf die Probe gestellt: Am Strand von Pervalka bauten wir unsere Stative auf, als sich unverhofft ein kräftiger Regenschauer ankündigt. Die Kameras waren schnell im trockenen Fotorucksack verstaut – wir noch schneller im Auto verschwunden. Nach ca. 20 min breitet sich Ungeduld mit dem Verlangen nach Abendessen im Auto aus. Nach weiteren zwanzig diskussionsreichen Minuten brachen wir im nachlassenden Regen mit deutlich reduzierter Ausrüstung (Kamera mit einem Objektiv, ohne Stativ und Filter) erneut an den Strand auf. Hier entfachten die abziehenden Regenwolken eine wahrhaftige Götterdämmerung über der abendlichen Ostsee. Es schein so als hätte Frau Holle gerade eigenhändig die Backöfen für die Weihnachtsbäckerei angeworfen. Zufrieden – glückselig genießen wir diesen letzten prachtvollen Abendhimmel auf der Nehrung bevor wir am nächsten Morgen die Heimreise antreten.
Klaipeda – Kiel – heimwärts
Wieder am Festland angekommen, flanieren wir auf der Promenade des Seebades Palanga, dass ca. 20 km östlich von Klaipeda liegt. Am Abend schiffen wir auf der DFDS Athena Seaways ein und treten unsere Heimreise über die Ostsee an. Auf dem Weg gen Westen üben wir uns ein letztes Mal in S/W-Bildern im Gegenlicht. Es gilt erneute das Glitzern der ruhigen Ostsee im Licht- und Schattenspiel mit den Strukturen am Himmel zu komponieren. Am späten Nachmittag erreichen wir fahrplanmäßig den Ostuferhafen am Ende der Kieler Förde.
Den Abend lass ich, mit ebenfalls in Kiel übernachtenden Teilnehmer(inne)n auf dem Kultkutter Freedom einem traditionellen Zweimastsegler bei einem gemütlichen Abendessen ausklingen. Am nächsten Morgen heißt es zeitig vom Frühstückstisch hinüber auf den Kieler Hauptbahnhof zu wechseln. Mit dem Regionalexpress geht es durch die schleswig-holsteinische Moränenlandschaft nach Hamburg. Ähnlich wie bei meiner Anreise vor neun Tagen, begleiten mich schwere Regentropfen die lautstark auf Dach und Scheiben prasseln.
Im ICE von Hamburg in Richtung München tauche ich fast schon in Lichtgeschwindigkeit wieder ein, in das hektische und quirlige Treiben unserer Zeit. Wie fern doch mit einmal die ruhigen und stillen Tage zwischen Haff und Ostsee erscheinen…
P.S.: Wer von zu Hause eintauchen möchte in die Weite der Kurischen Nehrung, findet hier einige Titel um Kontakt mit der Region aufzunehmen…
- Die Kurische Nehrung: Ostpreußische Dichter erzählen
Armin Schmidt | ISBN 9783880426764 - Kurische Nehrung. Perle des Ostens. Traumland zwischen Haff und Ostsee
Antanas Sutkus | ISBN 9783792105764 - Die Kurische Nehrung von Kaliningrad nach Klaipeda
Dieter Tympner | Eigenverlag - Die Kurische Nehrung: Melancholie einer Landschaft
Monika Schulz-Fieguth, Dietmar Willoweit, Hildegard Willoweit | ISBN 9783898767729 - Wind + Sand. Kurische Nehrung
Kazimieras Mizgiris | ISBN 9783868289626 - NIDDEN – Landschaft der Sehnsucht
Bernd Schimpke ISBN 9783000584893
Oder antiquarisch mit Titeln wie…
- Die Kurische Nehrung in Wort und Bild
Oscar Schlicht | Gräfe und Unzer | 1927 - Die Kurische Nehrung, eine Monographie in Bildern
Gräfe und Unzer | 1930 - Die Kurische Nehrung in 144 Bildern
Martin Kakies | Verlag Gerhard Rautenberg | 1960